BRUTALISMUS
Die Nachkriegsmoderne ist seit längerem ein Schwerpunkt der baugeschichtlichen Forschung. Diese trägt erheblich zur Fundierung des Denkmalschutzes für die Bauten dieser Zeit bei - teilweise durchaus noch im Gegensatz zur Geringschätzung dieser Architektur durch die öffentliche Meinung.
Nachdem der Erkenntnisstand der Baugeschichte zur Nachkriegsmoderne der Fünfziger Jahre mittlerweile sehr hoch ist, zeichnet sich nun, analog zur fortwährenden Historisierung der jüngeren Geschichte, ein Forschungsbedarf zur folgenden Entwicklung der Moderne ab. Sowohl die zeitliche Abgrenzung der baugeschichtlichen Epochen ist hier noch unklar, als auch die unterschwelligen Verbindungen zwischen Nachkriegs- und Spätmoderne.
Die Krise des Spätfunktionalismus um 1970 und die folgende postmoderne Gegenbewegung haben ihre Anfänge bereits im Herbst der Nachkriegsmoderne. In dieser Übergangsphase spielt der Brutalismus eine Schlüsselrolle. Hervorgegangen aus dem Generationenkonflikt des CIAM (Congrès International d'Architecture Moderne) der späten Vierziger Jahre und im Umfeld des nachfolgenden Team 10 ist der Brutalismus aus einer Aneignung und Transformation der "Heroischen Moderne" (Alison Smithson) entstanden.
In den Fünfziger und Sechziger Jahren zwischen seinem Ursprungskontext in Großbritannien und verschiedenen nationalen Architekturkontexten von den USA bis nach Japan als ein internationales Projekt verfolgt, wurde der Brutalismus in den Sechziger und Siebziger Jahren integrativer Faktor einer neuen internationalen Tendenz einer Urbanität durch Dichte mit der Abkehr von der funktionellen Stadt und ihrer Funktionstrennung im Sinne Le Corbusiers. Tatsächlich ist aber auch die folgende Krise der Spätmoderne nicht unwesentlich mit der brutalistischen Ästhetik verbunden.
Brutalismus ist zunächst ein diffuses Projekt einer Generation, die mit einer fast fundamentalistischen Rückkehr zu den Materialien der Moderne und ihrer unvermittelten sinnlichen Anmutung im béton brut als Ästhetik der Wahrhaftigkeit zugleich eine Ethik beansprucht. Diese Ethik bezieht sich auf die alltägliche Rolle des Gebauten im Leben der Bewohner, Everyday statt High Culture. Als Theorie in der allerdings umstrittenen Kodifizierung durch Reyner Banham schien sie damit die ursprünglichen, verlorenen Motive der Moderne, endlich neu Gestalt werden zu lassen. Allerdings weist dieser Standpunkt nur einen unter vielen Begriffsherleitungen auf.
Während das Team 10, in dessen Diskussionen der Brutalismus Mitte der Fünfziger Jahre kultiviert wurde, mittlerweile intensiv erforscht wird, fehlt noch eine Fokussierung des Brutalismus in Abgrenzung einerseits zur Nachkriegsmoderne und andererseits zu den sich parallel entfaltenden damaligen Strömungen wie Formalismus, Strukturalismus, Pop Architektur sowie den utopischen Ansätzen, hinsichtlich einer Erarbeitung von Kriterien und Maßstäben zur Definition und Bewertung des brutalistischen Erbes.
Der Renaissance einiger brutalistischer Motive und Theoreme in der zeitgenössischen jungen Architektur entspricht indes keine vergleichbare öffentliche Sensibilität gegenüber den gebauten Manifesten dieser Bewegung. Wie etwa der Abriss der Pimlico School oder der großen Wohnanlage Robin Hood Gardens, beide in London, signalisieren, besteht im Gegenteil auch eine konservatorische Brisanz im Umgang mit dem Erbe dieser Architektur.