Institute for Project Defaults

Forschungsprojekt – MAS gta ETH Anette Busse

Brutalismus | Photo: Marianne Götz

Die Nachkriegsmoderne ist seit längerem ein Schwerpunkt der baugeschichtlichen Forschung. Diese trägt erheblich zur Fundierung des Denkmalschutzes für die Bauten dieser Zeit bei - teilweise durchaus noch im Gegensatz zur Geringschätzung dieser Architektur durch die öffentliche Meinung. Nachdem der Erkenntnisstand der Baugeschichte zur Nachkriegsmoderne der Fünfziger Jahre mittlerweile sehr hoch ist, zeichnet sich nun, analog zur fortwährenden Historisierung der jüngeren Geschichte, ein Forschungsbedarf zur folgenden Entwicklung der Moderne ab. Sowohl die zeitliche Abgrenzung der baugeschichtlichen Epochen ist hier noch unklar, als auch die unterschwelligen Verbindungen zwischen Nachkriegs- und Spätmoderne. Die Krise des Spätfunktionalismus um 1970 und die folgende postmoderne Gegenbewegung haben ihre Anfänge bereits im Herbst der Nachkriegsmoderne. In dieser Übergangsphase spielt der Brutalismus eine Schlüsselrolle. Hervorgegangen aus dem Generationenkonflikt des CIAM (Congrès International d'Architecture Moderne) der späten Vierziger Jahre und im Umfeld des nachfolgenden Team 10 ist der Brutalismus aus einer Aneignung und Transformation der "Heroischen Moderne" (Alison Smithson) entstanden. In den Fünfziger und Sechziger Jahren zwischen seinem Ursprungskontext in Großbritannien und verschiedenen nationalen Architekturkontexten von den USA bis nach Japan als ein internationales Projekt verfolgt, wurde der Brutalismus in den Sechziger und Siebziger Jahren integrativer Faktor einer neuen internationalen Tendenz einer Urbanität durch Dichte mit der Abkehr von der funktionellen Stadt und ihrer Funktionstrennung im Sinne Le Corbusiers. Tatsächlich ist aber auch die folgende Krise der Spätmoderne nicht unwesentlich mit der brutalistischen Ästhetik verbunden. Brutalismus ist zunächst ein diffuses Projekt einer Generation, die mit einer fast fundamentalistischen Rückkehr zu den Materialien der Moderne und ihrer unvermittelten sinnlichen Anmutung im Béton Brut als Ästhetik der Wahrhaftigkeit zugleich eine Ethik beansprucht. Diese Ethik bezieht sich auf die alltägliche Rolle des Gebauten im Leben der Bewohner, Everyday statt High Culture. Als Theorie in der allerdings umstrittenen Kodifizierung durch Reyner Banham schien sie damit die ursprünglichen, verlorenen Motive der Moderne, endlich neu Gestalt werden zu lassen. Allerdings weist dieser Standpunkt nur einen unter vielen Begriffsherleitungen auf. Während das Team 10, in dessen Diskussionen der Brutalismus Mitte der Fünfziger Jahre kultiviert wurde, mittlerweile intensiv erforscht wird, fehlt noch eine Fokussierung des Brutalismus in Abgrenzung  einerseits zur Nachkriegsmoderne und andererseits zu den sich parallel entfaltenden damaligen Strömungen wie Formalismus, Strukturalismus, Pop Architektur sowie den utopischen Ansätzen, hinsichtlich einer Erarbeitung von Kriterien und Maßstäben zur Definition und Bewertung des brutalistischen Erbes. Der Renaissance einiger brutalistischer Motive und Theoreme in der zeitgenössischen jungen Architektur entspricht indes keine vergleichbare öffentliche Sensibilität gegenüber den gebauten Manifesten dieser Bewegung. Wie etwa der Abriss der Pimlico School oder der geplante Abriss der großen Wohnanlage Robin Hood Gardens, beide in London, signalisieren, besteht im Gegenteil auch eine konservatorische Brisanz im Umgang mit dem Erbe dieser Architektur. Gegenwärtig wird der Erhalt der legendären Sechziger Jahre Kirche St. Agnes in Berlin, Sinnbild einer deutschen Brutalismus-Bewegung, des ehemaligen Senatsbaudirektors Werner Düttmann verhandelt. Die aktuelle Diskussion mit ihren weitreichenden Folgen greift inzwischen auch auf die Bauten aus den Siebziger Jahren, wie u.a. auf die IBA Häuser von John Heyduk, über.

Unsere These zur Relevanz des Themas ist, dass im Brutalismus in kritischer Verarbeitung von klassischer Moderne und Nachkriegsmoderne eine Laborsituation erzeugt wurde, in der langfristige Tendenzen der modernen Architektur bis heute erstmalig erprobt wurden. Neben den ästhetischen und formalen Weichenstellungen, die sich etwa im späteren Minimalismus manifestierten, haben ebenso die ethischen, also die sozialen und politischen Subtexte der brutalistischen Everyday Architecture nachhaltig spätere Diskurse in Architektur und Städtebau beeinflusst, so die an Las Vegas und Suburbia orientierte Postmoderne von Venturi, Scott Brown oder den Dirty Realism in den späten Achtziger Jahren, die in eine neue Urbanitätsdiskussion zum Urban Sprawl mündete. So gesehen ist der Beitrag zum Brutalismus auch ein Baustein in der Bilanz der neueren Architektur nach der Postmoderne.

www.brutalismus.com